EuGH vom 16.07.2015 – C-108/14, Larentia + Minerva sowie Marenave; DStR 2015, 1673 mit Besprechung von Streit/Rust, DStR 2015, 2097 ff.

Sachverhalt: Eine Führungsholding hält an zwei Tochtergesellschaften – Rechtsform: GmbH & Co. KG – jeweils mehr als 98 % der Anteile. Zur Finanzierung der Beteiligung nahm die Holding Kapital am grauen Kapitalmarkt auf und bezog Dienstleistungen von einem Dritten. In den Verfahren geht es um die Abzugsfähigkeit jener Vorsteuern, die auf die Leistungen des Dritten entfallen. Da die Holding in die Verwaltung der Beteiligungen nicht eingegriffen hat, war sie insoweit nicht unternehmerisch tätig und konnte nach Auffassung des Finanzamtes die Vorsteuern insoweit nicht abziehen. Der BFH (v. 11.12.2013, XI R 17/11, BStBl. II 2014, 417) ging davon aus, dass dann, wenn man die Tochtergesellschaften als Organgesellschaften der Holding betrachten würde, ein voller Vorsteuerabzug möglich sei.

Umsatzsteuerrechtlicher Hintergrund: Nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG können mehrere Unternehmen eine Organschaft bilden. Rechtsfolge dieser Organschaft ist, dass die im Wege der Organschaft verbundenen Unternehmen bzw. Unternehmensteile wie ein Unternehmen behandelt werden. Zu unterscheiden sind das Innenverhältnis, also das Verhältnis der Gesellschaften innerhalb der Organschaft zueinander, und das Außenverhältnis, also das Auftreten der Gesellschaften gegenüber Dritten.

Im Innenverhältnis einer Organschaft gilt: Alleiniger Unternehmer ist grundsätzlich der Organträger. Die Umsätze zwischen den Unternehmen des Organkreises sind nicht steuerbare Innenumsätze. Die umsatzsteuerlichen Pflichten gegenüber den Finanzbehörden treffen grundsätzlich den Organträger.

Da die Umsätze des Organschaftskreises beurteilt werden wie die Umsätze eines Unternehmens, stünden die Eingangsleistungen zur Einwerbung von Kapital im Falle einer Organschaft nicht mit dem bloßen Halten der Beteiligung, also einer nichtunternehmerischen Tätigkeit, im Zusammenhang, sondern mit den Ausgangsumsätzen der Tochtergesellschaft, für die ein Vorsteuerabzug möglich wäre. Es wäre – so der BFH – ein voller Vorsteuerabzug gegeben, wenn die Tochtergesellschaften mit der Holding im Wege der Organschaft verbunden wären.

Entscheidend für die rechtliche Beurteilung des Vorsteuerabzugs ist damit die Frage, ob die Voraussetzungen einer umsatzsteuerlichen Organschaft vorliegen.

Beurteilung nach deutschem UStG: Die Voraussetzungen einer Organschaft ergeben sich aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG. Eine Organschaft liegt vor, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist. Organgesellschaft nach nationalem Recht kann daher nur eine juristische Person sein, nicht aber eine KG.

Beurteilung nach Europäischem Recht: Nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 Sechste RL 77/388/EWG kann jedes Unternehmen Organgesellschaft sein. Eine Beschränkung auf juristische Personen sieht die Richtlinie nicht vor. Mit Urteil vom 9.4.2013 – C-85/11 hatte der EuGH bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie denn eine Organschaft zulassen, diese nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig machen dürfen als die Richtlinie.

Ergebnis: Das deutsche Recht verstößt gegen Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 Sechste RL 77/388/EWG.

Folgen: Der EuGH weist ausdrücklich darauf hin, dass Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 Sechste RL 77/388/EWG nicht unmittelbar anwendbares Recht ist. Das Sekundärrecht der EU kennt neben Richtlinien auch Verordnungen. Während Verordnungen unmittelbar anwendbares Recht sind, richten sich Richtlinien an den nationalen Gesetzgeber und müssen von ihm erst in unmittelbar anwendbares Recht umgesetzt werden. Nur dann, wenn Richtlinienbestimmungen selbst inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, können sie ausnahmsweise unmittelbar anwendbares Recht begründen. Diese Voraussetzung lag nach Auffassung des EuGH bei der Regelung der Organschaft nicht vor, da die Voraussetzung „enge Verbindung in finanzieller, wirtschaftlicher und organisatorische Hinsicht“ einer Konkretisierung bedarf.

Der einzelne Bürger kann sich daher nicht unmittelbar auf Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 Sechste RL 77/388/EWG berufen. Fraglich ist, ob § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG über eine unionsrechtskonforme Auslegung zur Übereinstimmung mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 Sechste RL 77/388/EWG gebracht werden kann. Da der Begriff der juristischen Person eindeutig ist, würde eine derartige Auslegung m.E. den Wortlaut des Gesetzes sprengen. Auch mit der Gesetzgeschichte wäre diese Auslegung kaum in Einklang zu bringen. Hier bleibt aber die Entscheidung des BFH und ggfls. eine europarechtskonforme Neuregelung durch den Gesetzgeber abzuwarten. Für das Studium ist diese Entscheidung bedeutsam, weil sich aus ihr die sehr begrenzten Folgen einer Verletzung europäischer Richtlinien ergeben.

© 2023 Dr. Britta Holdorf | Rechtsanwältin und Notarin